Mit Sprache eine Brücke bauen

Ich klopfe an der Tür von Raum 026. Frau Blenk hat plötzlich eine ukrainische Schülerin in ihrer 5b, die kein Wort Deutsch oder Englisch spricht – und mich deswegen gefragt, ob ich übersetzen kann. Ich habe eine ukrainische Mutter, die mir von Anfang an Russisch beigebracht hat; eine Sprache, die auch viele Ukrainer*innen nutzen. Ich bin nervös. Ich weiß nicht genau, was auf mich zukommt und ich fühle eine Verantwortung auf meinen Schultern

Als mir aber von Frau Blenk die Tür geöffnet wird und ich in lächelnde Augen blicke, fällt es mir etwas leichter. Weitere, unzählige Augen blicken mich an, als ich in den Raum trete. Viele gucken fragend, neugierig und andere schauen aufgeregt und interessiert. Ich blicke in eine Runde voller Mädchen. Die Jungen haben woanders Unterricht. Dann sehe ich das ukrainische Mädchen, das ich erst gestern auf meinem Bildschirm betrachtet habe. Auf der Schul-Homepage gab es ein Foto von ihr. Es sieht genau so aus - braune Augen und Haare, eine rosa Jacke und ein ruhiger Blick. Wegen Karolina bin ich gekommen.

Als Frau Blenk mich ihren Schülerinnen auf Deutsch vorstellt, fühle ich mich ein wenig unwohl. So viele neugierige Augen sind immer noch auf mich gerichtet. Nur in Karolinas Blick kann ich nichts finden. Ich gehe davon aus, dass sie nichts versteht. Vielleicht hat sie sich bereits daran gewöhnt – zuzuhören, aber nichts zu verstehen? Dann bittet mich Frau Blenk, Karolina etwas über mich auf Russisch zu erzählen. Und in dem Moment, in dem sie meine russischen Wörter hört, blinzelt Karolina überrascht auf. Ich sehe sie das erste Mal lächeln. Es macht mich sehr glücklich, wie eine so einfache Geste so viel bewirken kann. Ich bin froh, ihr zeigen zu können, dass sie nicht alleine steht und dass wir bei allem, was wir können, helfen werden.

Ich muss auch lächeln und entspanne mich. Ich freue mich jetzt richtig, Fragen und Antworten zu übersetzen. Ich fühle mich wohl im Klassenraum und der Atmosphäre. Leni, Mia, Laura, Viola, Pia... Viele Mädchen haben viele Fragen. Wo bist du zur Schule gegangen? Hast du eine beste Freundin? Wo ist die jetzt? Hattest du Haustiere? Wie hießen sie? Habt ihr sie mitgenommen? Was war das Wichtigste, was du auf die Flucht mitnehmen wolltest? Wie genau seid ihr nach Deutschland gekommen?

Karolinas Antworten ergänzen ihre Geschichte wie ein Puzzle: Eine 5-köpfige Familie, die mit Zug und Bus aus Kiew nach Warschau, Berlin und schließlich nach Großhansdorf geflüchtet ist. Zurück geblieben ist der biologische Vater, der gegen eine Flucht war. Ich merke, dass es ihr schwerer fällt, über ihn zu reden. Ihr ebenfalls zurück gebliebener Kater und ihr nicht über die Grenze gelassener Hamster scheinen sie auch zu bedrücken. Karolina hatte keine Zeit, Lieblingssachen einzupacken, die Flucht startete für sie plötzlich und völlig unerwartet. Die beste Freundin ist auch nach Deutschland geflohen, sie haben per Handy Kontakt.

Für mich ist es neu, in der Schule Russisch zu sprechen – und auch, den so flüssigen und vollen Klang der Sprache hier im Klassenraum gesprochen zu hören. Ich mag Karolinas Aussprache sehr, er erinnert mich an den meiner Tante. Da ist etwas an diesem Mädchen, das mich fasziniert und nicht mehr loslässt.

Als ich das Klingeln höre, merke ich erst, wie viel Zeit schon vergangen ist. Ich gebe der Klasse für die Verständigung noch eine Wortliste, auf der ich die wichtigsten Ausdrücke in Deutsch und Russisch notiert habe –plus Aussprache. Zum Abschied möchte ich Karolina umarmen - eine Geste, die ich oft in der Ukraine gemacht habe.

Text: Maria-Sophie Ghidu-Wittich / Presse-AG Blk

Foto: Heike Blenk


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