„Es ist Zeit, Marie“

Ein Dämon schreitet in den Raum, er hält ein Messer in der Hand. „Es ist Zeit, Marie“, sagt er. Woyzeck tötet Marie. Doch bei einem Mord bleibt es auf der rosaroten Bühne des Hamburger Schauspielhauses an diesem Vormittag nicht.

Zuschauermengen drängten sich durch das Foyer des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Aufgeregt wurden die richtigen Sitzplätze gesucht, viele bestaunten den prächtigen Zuschauerraum aus dem Jahr 1900. Es lag ein nervöses Knistern in der Luft, nichts Besonderes für eine ausgebuchte Vorstellung. Alles andere als normal war jedoch der Altersdurchschnitt des Publikums. Die Ränge wurden fast ausschließlich von Schüler*innen besetzt, von denen ein Großteil das Drama „Woyzeck“ wohl als Abiturlektüre durchgenommen hatte. So saß ebenso der gesamte Q2 Jahrgang des Stormarner EvBs mit seinen Deutschlehrern Heike Blenk, Robert Mohr und Finn Melander gespannt auf seinen Plätzen im oberen Rang. Auch diese Schüler*innen hatten „Woyzeck“ von Georg Büchner zuvor schon akribisch im Unterricht besprechen und analysieren dürfen. Doch mit so einer Interpretation hatte wohl kaum jemand gerechnet.

Das Saallicht erlosch, eine tiefe Bassmelodie erklang, sie brachte den alten Saal merklich zum Vibrieren und das Publikum zum Verstummen. Mit überraschten Blicken beobachtete dieses, wie sich ein außerirdisch anmutender Dämon auf Plateauschuhen an ein Schlagzeug setzte und ekstatisch zu trommeln begann. Ungewöhnlich für das Schauspielhaus war die reduzierte Projektionsfläche am Bühnenrand, die den Rest der imposanten Bühne im Dunklen ließ. Diese öffnete sich dann unerwartet zu einem mittig platzierten Schaukasten von der Größe eines Wohnzimmers. Die sterile fleischwurstfarbene Wartezimmeratmosphäre blieb über das gesamte Stück der Schauplatz der wortgetreuen Klassikerinszenierung.

Büchners Idee eines kranken Geistes, verkörpert durch den bemitleidenswerten Woyzeck, übertrug Regisseurin Lucia Bihler auf ein minimalistisches, sich drehendes Bühnenbild. Die Verschiebung von Raum durch eine Drehbühne und Zeit durch wiederholte, sich steigernde Durchläufe, strengte die Zuschauer*innen bis zur Überforderung an. Während sich die Überspitzung aller Reize fast wie eine eigene Wahnvorstellung anfühlte, tapste Woyzeck in einem Trainingsanzug durch die Endlosschleife seiner Entscheidungen, Marie zu töten.

Die aus dieser Interpretation resultierende Frage an uns Schüler*innen kann sein: „Hatte Woyzeck eine Wahl?“

Im Nachgespräch im Marmorsaal konnten wir unter Leitung einer Theaterpädagogin ins Gespräch mit zwei Darsteller*innen kommen. Matti Krause, der gerade noch den Doktor und den Narren gespielt hatte, und Bettina Stucky, die die geschundene Marie verkörpert hatte. „Im Stück lag der Fokus mehr auf Marie als in der Fassung von Büchner“, bemerkte ein Schüler. Stucky und Krause erzählten, wie im Stück thematisch der Femizid hervorgehoben werden sollte. „Die Selbstmordszene von Woyzeck ist mir aber am schwersten gefallen“, erklärte die Darstellerin von Marie.

Schnell wurde deutlich, dass der Theaterbesuch bei vielen einen bleibenden Eindruck hinterlassen würde. „Bei „Woyzeck“ habe ich mir eigentlich was Klassisches vorgestellt“, erklärte ein Schüler etwas irritiert. Auch nach Ende der Besprechung wurden kritisch Ansichten und Theorien zu dieser außergewöhnlichen Inszenierung ausgetauscht. „Das Stück hat auf jeden Fall eine neue Sichtweise auf „Woyzeck“ aufgezeigt“, erkannten einige Schüler*innen.

Text: Moritz Kremson; PRESSE-AG/Blk

Fotos: Heike Blenk


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