Liebe Celia Digón, du bist in Madrid geboren und arbeitest seit mehr als 20 Jahren in Norddeutschland, fühlst du dich als Deutsche, Spanierin oder doch als Europäerin?
Ich fühle mich sowohl als Spanierin als auch als Deutsche und auch als Europäerin.
Das Gefühl der Zugehörigkeit kommt von der Zuneigung der Menschen, den Erfahrungen und dem Gefühl, an einem Ort glücklich und willkommen zu sein.
Natürlich gibt es das geographische Europa, aber wenn wir uns für Europa einsetzen, meinen wir viel mehr als diese geographische Zuordnung. Was genau ist dir so wichtig an Europa?
Als ich beschloss, nach Deutschland zu kommen, dachte ich, dass Spanien und Deutschland sehr unterschiedliche Kulturen sind, und ich muss zugeben, dass ich ein bisschen Angst hatte: die Sprache, die unbegründeten Vorurteile gegenüber die Deutschen, das Klima...
Vom ersten Tag dieses kalten und grauen Novembers 2000 an, als ich in Kiel ankam, fühlte ich mich sehr wohl hier im Norden, ich fand Freunde, die mich wie eine der ihren aufnahmen, und ich liebte meinen ersten Job an einer Gesamtschule als Fremdsprachenassistentin. Es war alles sehr einfach (der Flug mit meinem normalen Personalausweis, der Arbeitsvertrag und allgemein die Anpassung), bis auf die Sprache, von der ich kein Wort beherrschte, aber das ist eine andere Geschichte.
Im Schuljahr 2004-2005 habe ich in einer Schule in den Vereinigten Staaten gearbeitet, und es war eine wunderbare Erfahrung. Die Amerikaner sind sehr nette Menschen und meine Schule war großartig, ich habe viel gelernt und gute Freunde gefunden. Allerdings habe ich mich dort nicht zu Hause gefühlt, aber in Deutschland von Beginn an. Warum?
Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Werte wie Meinungsfreiheit, das Recht auf Gerechtigkeit,die Freiheit, sich frei und sicher zu bewegen, insbesondere als Frau, und in einer Gesellschaft zu leben, in der es keine großen sozialen Unterschiede und in der es Möglichkeiten für ALLE gibt (z.B. Arbeit, ein Zuhause, Essen, ärztliche Versorgung und Unterstützung für diejenigen, die nicht genug haben).
Nachdem ich in den USA war und zu dieser Zeit Lateinamerika, insbesondere Perú, bereist hatte, wurde mir klar, dass ich viele Dinge vermisste, die für mich normal waren und über die ich nie nachgedacht hatte.
Bevor ich an der Schule in den USA unterrichtete, nahm ich zusammen mit anderen Lehrkräften an einer Lehrerfortbildung teil. Wir lernten viel, vor allem Methodik und eine andere faszinierende Art des Unterrichtens kennen, aber ich war sehr schockiert, als man uns sagte, dass es verboten sei, in der Schule über Politik oder Religion zu sprechen.
Für mich war es unvorstellbar, nicht sagen zu können, wer man ist, wie man denkt, d. h. ich konnte nicht mein wahres „Ich“ zeigen. Außerdem ist es für mich schwer, nicht die Möglichkeit zu haben, sich mit anderen Denkweisen und Lebensansichten auseinanderzusetzen.
Ich war auch schockiert über die enorme soziale Kluft zwischen sehr reichen und sehr armen Menschen, viel extremer als irgendwo in Europa. Ganz zu schweigen davon, wie schrecklich es ist, zu wissen, dass es Menschen mit Waffen gibt. Ich habe in der Schule einen Amoklauf erlebt, zum Glück hat die Polizei sofort eingegriffen und es ist nichts passiert, aber ich habe noch nie solche Angst gespürt.
In Lateinamerika habe ich mich als Frau nicht sicher gefühlt, zwar respektiert, weil ich eine „europäische Gringa“ war, aber ich habe viele Situationen des mangelnden Respekts gegenüber lateinamerikanischen Frauen erlebt, einige von ihnen waren gute Freundinnen, sehr traurig.
Obwohl ich weiß, dass in Europa nicht alles perfekt ist und dass wir viele Dinge kritisieren können und sollten, ist mir klar, dass hier bereits viele Rechte erreicht wurden (sicherlich nicht als Geschenk, sondern durch den Kampf vieler Menschen), die für mich sehr wertvoll sind und wir müssen sicherstellen, dass sie nicht verloren gehen.
Warum sind die vielen Austauschfahrten, die du am EvB maßgeblich organisierst, so wichtig?
Die Erfahrung des Austauschs gibt den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich anderen Kulturen zu nähern, d. h. anderen Denk- und Lebensweisen. Wenn man in der Lage ist, Projekte durchzuführen, zu diskutieren und mit Menschen zusammenzuleben, die anders sind als man selbst, dann ist das meiner Meinung nach eine unverzichtbare Ausbildung für die Schülerinnen und Schüler.
In der Tat ist es für viele Schülerinnen und Schüler eine z.T. eine herausfordernde Erfahrung, weil es nicht einfach ist, Personen aus einem anderen Land zu verstehen, aber genau hier setzt das Lernen an, indem wir unsere Schülerinnen und Schüler an diese Situationen heranführen und versuchen, ihnen Werkzeuge zum Verstehen zu geben. Dies ist nicht nur für sie notwendig, wenn sie reisen oder mit anderen Kulturen interagieren, sondern es verleiht ihnen auch eine Reife, die ihnen helfen wird, mit anderen Menschen auf persönlicher Ebene und am Arbeitsplatz besser zurechtzukommen, auch mit Menschen aus ihrer eigenen Kultur.
Als Fremdsprachenlehrerin tue ich das natürlich auch, damit die Schülerinnen und Schüler die in der Schule erlernte Sprache anwenden und üben können, aber die Sprache ist auch der Schlüssel zu anderen Denkweisen und anderen spannenden Menschen. Da dies für mich eine sehr bereichernde Erfahrung war und ist, liebe ich es und freue mich, anderen diese Möglichkeit zu geben und ihre Neugierde zu wecken.
Eine Welt ohne Krieg, eine Welt ohne Vertreibung, eine Welt in Frieden, was können wir in der Schule dafür tun?
Nun, ich denke, wir tun bereits eine Menge.
In den letzten Jahrzehnten haben wir in Europa Stabilität und einen Ort des Friedens aufgebaut, der jetzt leider wieder durch die Kriege in unserer Nähe bedroht ist. Deshalb müssen wir uns meiner Meinung nach jetzt mehr denn je zumindest mit unseren Nachbarn in Europa zusammenschließen, um den Wunsch nach Frieden in der Welt zu verteidigen.
Deshalb bedeutet für mich die Identität als Europaschule schon sehr viel, dass wir für diese Werte eintreten und sie vermitteln.
Kriege und Streitigkeiten werden durch Einzelinteressen ausgelöst, ohne an den anderen zu denken, weil wir denken, dass wir besser sind oder mehr Rechte haben als andere. Wenn wir verstehen würden, dass wir alle Menschen sind und lernen würden, einander zu respektieren, gäbe es sicherlich mehr Frieden.
Und das ist es, was wir an der EvB zu tun versuchen. Wir wollen verantwortungsbewusste und respektvolle Schülerinnen und Schüler erziehen. Deshalb haben wir klare Regeln für das Zusammenleben, damit die Atmosphäre in der Schule von Wohlbefinden und Respekt geprägt ist.
Gerade die Lerninhalte unterschiedlicher Fächer ermöglichen es uns zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Am EvB, und sicherlich in den meisten Schulen, sind die Methoden keine bloße Anhäufung von Informationen, sondern eine grundlegende Wissensbasis, die uns hilft, zu denken und kritisch zu sein. Wenn dies mit den Werten des Zusammenlebens und des Respekts zu Hause und in der Schule einhergeht, werden die Chancen auf friedliche und tolerante Schülerinnen und Schüler und Menschen höher.
Die Schüleraustauschprogramme sind, wie ich bereits erwähnt habe, der Schlüssel, um andere Kulturen näher kennenzulernen und Respekt und Toleranz zu fördern. Dieser Austausch wird dadurch erleichtert, dass das EvB eine akkreditierte Erasmus+-Schule ist. Seit fast 20 Jahren bieten wir auch Praktika im Ausland an, die unseren Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit geben, die Arbeitswelt in anderen Ländern kennenzulernen. Auch unser Erasmus+-Job-Shadowing- undLehrkräftefortbildungsprogramm fördert den europäischen Gedanken auf ganz andere Weise. Zudem bietet das EvB AGs und Prüfungen zum Erwerb offizieller Diplome in Französisch, Englisch und Spanisch an. Neben dem Austausch organisiert es auch Bildungsfahrten, um andere Kulturen kennenzulernen, wie z.B. die Reise nach Rom und hoffentlich bald eine Ausbildungsreise nach Dänemark. Wir nehmen schon seit langem Schülerinnen und Schüler aus Chile und anderen Kulturen auf, im nächsten Jahr auch erstmals aus Norwegen.
Wir sind auch eine „Schule ohne Rassismus“, was uns auch die Möglichkeit gibt, über Situationen vonUngerechtigkeit und Rassismus zu reflektieren und diesen entgegenzuwirken. Wir halten auch den sozialen und solidarischen Aspekt für sehr wichtig. Daher unterstützen wir seit Jahren unsere Partnerschule in Tansania, indem wir einen Adventsbazar organisieren, finanzielle Unterstützung leisten und freiwillige Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler entsenden, die die Schule unterstützen. Vor kurzem gab es auch eine äußerst beeindruckende Veranstaltung mit einer Zeitzeugin der Judenverfolgung.
Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich, dass es noch so viele weitere Aktivitäten und AGs am EvB gibt, und ich bin stolz auf all die Aktionen, die wir am EvB seit langem machen. Wir können die Welt nicht verändern, aber wir können unsern Beitrag leisten, indem wir unsere Bildung auch dahingehend ausrichten, über Gerechtigkeit, Mitgefühl und dem Wunsch nach einer besseren Welt für alle nachzudenken.
Am 8. Mai fand ein Europatag am EvB statt. Du hast diesen Tag zusammen mit einem sehr engagierten Team organisiert, könntest du knapp beschreiben, was die Jahrgänge 5-7, 8+9, 10 und Q1 gemacht haben?
Die Jahrgänge 5, 6 und 7, koordiniert von Jelka Iven, Michail Alekoglou und mir und unterstützt von vielen anderen Lehrkräften, sammelten Informationen über die 27 Länder, aus denen die EU besteht. Jede Klasse hatte ein oder zwei Länder und musste mit diesen Informationen Fragen formulieren und ein Kohout zu ihrem Land gestalten. Nun wird Etienne Violet, der die Kohouts aus allen Ländern erhalten hat, sie freundlicherweise zu „dem großen Spiel von Europa“ zusammenstellen, das wir auf unserer Homepage veröffentlichen werden, damit alle Schülerinnen und Schüler mit ihren Familien zu Hause und in der Schule spielen und lernen können, z.B. in der KL-Stunde, also eine spielerische Art zu lernen und andere Länder in der EU zu entdecken.
Die Jahrgänge 8 und 9 setzten sich mit den Werten der EU auseinander. Sara Thiel und ich haben dazu ein didaktisches Material vorbereitet, das alle Lehrerinnen und Lehrer erhalten haben, die Schülerinnen und Schüler waren dazu aufgefordert für die Wichtiges herauszuarbeiten. Anschließend gestalteten die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe von Renate Schoeneich und der Fachschaft Kunst, Heike Blenk als Fotografin und Etienne als Techniker ihre eigenen Plakate darüber, was Europa für sie bedeutet und anschließend wurden sie für eine Montage fotografiert. Die Montage wird bald auch auf unserer Homepage erscheinen wird. Wieder arbeitet unser unermüdlicher Etienne Violet daran.
Der Jahrgang 10 arbeitete mit didaktischen Materialien, die von Herrn Dr. Robert Mohr und Nathalie Glashoff zur Verfügung gestellt wurden, um das Thema Rechtsextreme Hasskommentare und Alltags-Rassismus weiter zu vertiefen.
Der Q1-Jahrgang arbeitete an dem von Uta Knigge vorbereiteten Projekt der „Europa-Denk-Schule“. In ihrem WiPo-Kurs besuchte sie am 12.2. und am 08.3.24 die EU-Abgeordnete Delara Burkhardt, um das Projekt mit ihrem Kurs durchzuführen. Auf dem Europatag präsentierten ihre Schülerinnen und Schüler das Projekt im FORUM in der gesamten Q1-Jg. Der Kurs von Tim Ulrich produzierte außerdem Videos zu den Freiheiten der EU.
Auch die Jahrgangsstufe Q2 wollte sich am Europatag beteiligen und trug mit dem Verkauf von europäischem und internationalem Gebäck und Köstlichkeiten bei, die die Schülerinnen und Schüler in der Pause probieren durften.
Am Ende versammelten wir uns im Forum und unsere beiden Moderatorinnen Anni und Laurence aus der Klasse 8d luden einige Schüler ein, auf der Bühne zu erklären, was sie in ihren Klassen gemacht hatten. Zum Schluss sagte auch Herr Weis ein paar Worte zum Europatag und unsere liebe Beate Krüger und Jörg Schraplau erfreuten uns zusammen mit ihrer Bläserklasse mit der Hymne der Europäischen Union.
Wenn du unendlich viel Zeit und Geld hättest, was wäre dein Traum von einer perfekten Europaschule?
Nun, nach allem, was ich oben erklärt habe, glaube ich, dass wir kaum mehr verlangen können,dass wir bereits vieles tun und anbieten. Aber nein, es ist nicht perfekt, deshalb, wenn ich unendlich viel Zeit und Geld hätte…
1. Am wichtigsten wäre es, die Schule mit finanziellen Mitteln und Zeit für die Lehrkräfte auszustatten. All diese Projekte kommen nicht aus dem Nichts. Dahinter steckt unendlich viel Arbeit, viel Engagement und harte Arbeit von vielen Lehrkräften der Schule, die diese Aktivitäten und Projekte mit viel Liebe vorbereiten.
Es ist wichtig, dass diese Projekte/Aktionen auch enorme Wertschätzung erfahren, um stabile Strukturen zu schaffen. Die Projekte sollten nicht von einzelnen Personen abhängen, damit sich nicht auflösen, wenn Lehrkräfte gehen oder keine Zeit oder Kraft mehren haben. Bildung sollte das wichtigste Thema überhaupt sein, warum ist das nicht der Fall? Wir brauchen dringend mehr Lehrkräfte, damit das, was wir bereits erreicht haben, nicht verloren geht und damit wir vieles mehr und eine bessere Qualität anbieten können.
2. Wenn das der Fall wäre, könnten wir viel mehr Aktionen mit Eltern und Schülern koordinieren, die auch viel Sitzungszeit kosten. Das ist ein Traum, den ich schon in einzelnen Aktionen verwirklichen konnte, aber sie brauchen Kontinuität und aus Zeitmangel ist es nicht möglich, sie zu koordinieren. Das ist schade, denn ich bin mir sicher, dass es an unserer Schule viele nette Eltern und Schülerinnen und Schüler gibt, die sofort bereit wären, sich an diesem Projekt Europaschule zu beteiligen.
3. Ich würde mir einen europaintegrierten Lehrplan wünschen, der von den Lehrkräften und der Schulleitung unterstützt wird. Und zwar nicht nur in den Fächern Sprachen und Politik und Wirtschaft, sondern auch in allen anderen Fächern. Wir haben am EvB wirklich motivierte Lehrkräfte, die immer bereit sind, sich in europäische Projekte einzubringen, wie zum Beispiel bei unserem vergangenen „Europatag“ oder bei der Unterstützung von Projekten und Workshops mit unseren Austauschprogrammen oder in Erasmus+ Projekten. Es ist fantastisch, aber, wenn ich könnte, würde ich mir wünschen, dass jede Lehrkraft in ihrem Fach europäische Themen aufgreift. Es gibt sehr gute Unterrichtsmaterialien und Projekte, die in den Lehrplan absolut aller Fächer aufgenommen werden könnten, von Physik bis Kunst oder Sport zum Beispiel. Meiner Meinung nach sollte dies in die Fachanforderungen des Ministeriums in die Fächer aufgenommen werden. Dann hätten die Lehrkräfte diese Arbeit in ihren regulären Stunden.
4. Ich würde es für jede „Europaschule“ zur Pflicht machen, mindestens einmal das Europäische Parlament in Brüssel zu besuchen, und mehr informative Workshops, mehr Diskussionen als bisher, mehr Besuche von Fachleuten, Politikern oder Europa-Zugeordneten anbieten.
5. Ich würde auch den Dialog mit anderen Kulturen noch mehr fördern, zum Beispiel mit digitalen Projekten mit andern Schulen Europas oder der Welt.
6. Ich würde auch die Information und die Bedeutung des europäischen Kontextes noch mehr fördern, etwa eine gedruckte oder digitale Nachrichtenzeitung verlegen. Eine andere Idee wäre ein Radio für die Schule, um über all diese Themen zu informieren und die Meinungsfreiheit zu fördern.
7. Ich würde auch mehrinternationale Feste und internationale kulturelleVeranstaltungen innerhalb und außerhalb der Schule organisieren.
8. Es sollte mehr Möglichkeiten geben, Sprachkurse anzubieten
9. Der Aspekt der Solidarität scheint mir auch wesentlich zu sein, um sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, ihn zu verstehen und zu respektieren. Deshalb würde ich viel mehr Solidaritätsprojekte anregen.
Und noch viel, viel mehr. Mein Kopf ist voller Träume, und wenn es ein Team von Lehrerkräften mit Zeit und Geld gäbe, kann ich mir gar nicht ausmalen, wie viele Ideen entstehen würden, um unseren jungen Menschen interessante interkulturelle und demokratiefördernde Lernerfahrungen zu bieten.
Vielen Dank, liebe Celia Digón! An dieser Stelle auch noch einmal einen herzlichen Dank an das Team, das diesen Tag organisiert hat: Nathalie Glashoff, Robert Mohr, Jelka Iven, Michalis Alekoglou, Uta Knigge, Etienne Violet, Heike Blenk, Sarah Thiel, und Renate Schoeneich.