„God´s away on business!“

„Der Gedanke, dass für die meisten Menschen auch die armseligen Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, macht mich sehr bitter“, schrieb 1836 Georg Büchner – und verfasste das Drama WOYZECK, um diese Missstände auf der Bühne zu zeigen. Franz Woyzeck arbeitet bis zur Erschöpfung als gemeiner Soldat und stellt seinen Körper ungesunden medizinischen Studien zur Verfügung - und kann doch nicht verhindern, dass seine Freundin Marie ihn für den besser verdienenden Tambourmajor verlässt. Ausgebeutet und gedemütigt weiß der Antiheld in ohnmächtiger Wut keinen Ausweg und ermordet das einzige, was ihm im Leben wirklich etwas bedeutet: Marie. Büchner zeichnet im WOYZECK eine Gesellschaft, in der es keine Ausstiegs – oder gar Aufstiegsmöglichkeiten gibt – und ruft zum Umsturz der Verhältnisse auf.

Sein Drama ist derzeit offiziell Abiturstoff im Fach Deutsch in mehreren Bundesländern. Es ist auch der Stoff, aus dem der Kurs Darstellendes Spiel des Q1-Jahrgangs unter der Leitung von Heike Blenk und Kaja Buse seit etwa einem Jahr eine Theaterproduktion entwickelt. „Das Stück ist heute noch aktuell“, befanden die zwölf Kursteilnehmer*innen – und  transportierten die Handlung ins Jetzt und Heute. „Auch heute gibt es eine Menge Menschen, die sich trotz Unterstützung durch den Sozialstaat um ihr Auskommen sorgen müssen.“

Wer ist Franz Woyzeck heute? Wie würde er leben? Was könnte er arbeiten? Gibt es solche medizinischen Studien wirklich noch? „Ja, gerade neulich in der Ubahn habe ich einen Aufruf gesehen, dass man sich zu einer Medikamentenstudie melden solle“, ruft Aaron. All die Streikaufrufe für bessere Löhne zeigen doch auch, dass es bei vielen nicht reicht“, ergänzt ein Mitschüler. Angeregt auch durch den Kinofilm WOYZECK des Regisseurs Nuran Calis aus dem Jahr 2013 und eine aktuelle Theaterproduktion des Jungen Schauspielhauses Hamburg fällt der Transfer ins Jahr 2023 gar nicht schwer.

Ihr Franz Woyzeck arbeitet zwei Jobs – in einer Bar putzt er für einen Hungerlohn dreckige Gläser und räumt leere Bierflaschen fort – und für die Stadtreinigung räumt er den Müll neben den Ubahngleisen weg. Weil das Geld dennoch nicht reicht für seine Freundin und das gemeinsame Kind, stellt er seinen Körper einem ehrgeizigen Arzt an der Universität für Versuche zur Verfügung. Überall begegnen ihm Verachtung und Unmenschlichkeit. Er ist ständig erschöpft. „If you´re looking for someone to pull you out of that ditch, you´re out of luck, you´re out of luck!“ Seine Freundin versucht der Armut durch ein Verhältnis mit einer Barbekanntschaft zu entfliehen. „I´d sell your heart to the junkman, Baby, for a buck, for a buck!” Das tragische Ende ist bekannt.

Wie kann man theatrale Mittel nutzen, um die Aussagen zu verdeutlichen? „Kaltes Licht zeigt das emotionale Frieren“, befanden Ian-Luca und Johann, die für Ton und Licht zuständig sind. Und so sieht man beispielsweise die medizinische Studie in kühle Blautöne getaucht. Rotes Licht unterstützt die ohnmächtige Wut, die sich in Franz Woyzeck aufstaut – aber auch die Leidenschaft zwischen Marie und ihrem Liebhaber. In Ermangelung eines realen Kindes kommt Babygeschrei aus dem Off. Der sich immer weiter steigernde Puls Woyzecks ist ebenfalls akustisch verstärkt. Passsende Musik wird ständig ausprobiert. „Auf jeden Fall wird man Tom Waits´ “God´s away on business” hören. “Es gibt ja niemanden, der über Franz Woyzeck wacht”, sagt Aliena.

Sie spielt Marie – und ist gleichzeitig mit Leonie und Felina für die Kostüme und Requisiten zuständig. „Wir arbeiten hier in allen Theaterberufen“, lacht sie. Um die Armut sichtbar zu machen, organisierten die Kostümbildnerinnen ausgediente Hosen und zerschlissene Unterhemden; der Verführer trägt künstliche Tattoos und eine dicke Silberkette und schenkt glitzernde Ohrringe. Maries Attraktivität für gleich zwei Männer zeigen sie mit einem roten Kleid. Für die Ubahnszene braucht es echten Müll. Mit dem Theaterblut wird noch herumexperimentiert. „Das wirkt ja täuschend echt“, ist Liridon begeistert. „Gut auswaschen lässt es sich also nicht“, befürchtet Tom, der als Franz Woyzeck eben dieses Blut am Ende an den Händen haben wird.

„Darstellendes Spiel ist doch ein geniales Fach“, findet Marvin Keller, der für die Bühnenfotos gebucht ist. „Wenn nicht alle mitziehen, kann nichts entstehen. In welchem Fach hat man das sonst noch?“ „Es bringt auch definitiv total Spaß, sich mit den anderen auszuprobieren“, sagt Ian-Luca und seine Augen leuchten. „Es verändert einen – einige sind hier ziemlich über sich hinausgewachsen; das hätte ich gar nicht erwartet.“ „Zusammengewachsen sind wir auch“, ergänzen Bjarne und Leonard, der die zweite Besetzung für die Hauptrolle ist.

Damit das Ganze am Ende aber wirklich fehlerfrei und mit Wumms über die Bühne geht, ist noch ein bisschen Proben nötig. „Die Übergänge zwischen den Szenen sind schwierig“, berichtet Carl. „Textsicher sind wir auch noch nicht wirklich“, gibt Johannes zu. Es ist auch noch zu diskutieren, wie die finale Schlussszene aussehen soll. Wird Woyzeck verurteilt und weggesperrt? Oder erkennt die Gesellschaft ihren Anteil am Problem und sucht endlich Lösungen? „Aber wir haben ja noch einen Fachtag – bevor der Vorhang zur Premiere hochgeht“, beruhigen sie sich gegenseitig.

Premiere                                6.6.2023 19.30 Uhr

2. Abendvorstellung              9.6. 2023 19.30 Uhr

Vormittagsvorstellungen       12.6.2023 und 14.6.2023

Text: Heike Blenk

Bilder: Marvin Keller

 

 

 

 

 

 

 


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