„It is important that we are not quiet!”

Atemlose Stille herrscht im Forum des Emil von Behring-Gymnasiums, als Marione Ingram, 88 Jahre alt, auf der Bühne Platz genommen hat und beginnt, aus ihrem Roman „Kriegskind“ vorzulesen. Mit fester Stimme liest sie aus den Kriegserlebnissen eines siebeneinhalbjährigen Mädchens während der Operation Gomorrha“ im 2. Weltkrieg, bei der britische und amerikanische Flugzeuge die Hamburger Zivilbevölkerung bombardierten. Es sind ihre eigenen Kriegserlebnisse. 

„Dann raste eine Flammenwand an unserem Fenster vorbei“, liest sie. Die Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 9 bis 11 hören gebannt hin, als die zierliche alte Dame berichtet, wie das Kind mit der Mutter im Feuersturm in einem Luftschutzkeller Schutz suchte und abgewiesen wurde, weil sie Juden waren. „Brüllender heißer Wind raste durch die Straßen und die heißen Gase rissen alles mit sich. Der Stadtteil Hammerbrook war ein Scheiterhaufen. Ich hatte nur einen Gedanken – ich wollte überleben!“

Es hat eine ganz eigene Wucht, wenn eine Zeitzeugin erzählt, wie Menschen bemüht waren, durch geschmolzenen Asphalt zu waten oder als brennende Fackeln vergeblich versuchten, ihre brennenden Körper in der Alster zu löschen. Unfassbar und unglaublich schrecklich ist das, was vorne auf der Bühne zu hören ist. Aber es muss gesagt werden, weil sich Geschichte schlimmstenfalls wiederholt.

„Wenn jene, die Kriege anzetteln und von ihnen profitieren, sich die Mühe machen würden, Erinnerungen wie diese zu lesen, wären die Aussichten für das 21. Jahrhundert vielleicht etwas freundlicher“, unterstreicht auch der Guardian die Wichtigkeit von Marione Ingrims Worten.

„Ich weiß wirklich, wie es ist im Krieg“, sagt Marione Ingram und schaut mit festem Blick ins Publikum. „Deshalb finde ich es schier unerträglich, jetzt seit acht Monaten die Bilder der Kinder im von Israel zerbombten Gaza zu sehen – und auch die Nachrichten aus der Ukraine machen mir schlaflose Nächte.“ Sie kritisiert vehement, dass die Menschheit offensichtlich nichts gelernt habe aus den Kriegen der Vergangenheit. Krieg, Genozide, Holocaust – alles wiederhole sich. Immer wieder gehe es um Macht und Profit – und das Leid der Zivilbevölkerung nenne man verharmlosend Kollateralschaden. 

Ihre ehemals wohlhabende Familie in Hamburg hätte im Krieg fast alles verloren. Die Häuser, das Geld, die Großmutter, den Onkel, die Freiheit, die Gesundheit, den Seelenfrieden. Und sie hätte ja noch Glück gehabt. „Immerhin bin ich dem Feuersturm, der Gestapo und auch dem KZ entkommen und lebe nun ein gutes Leben in den USA. Aber meine Eltern konnten nicht reden über das was passiert ist; beide starben seelisch gebrochen. Ich selber habe das Buch „Kriegskind“ als Therapie für mich geschrieben, weil sonst niemand mit mir über das Erlittene sprach.“ 

Schon vor dem Krieg erlebte die Familie Beschimpfungen, Schmähungen, Beleidigungen. Die Schule, in der Juden vorgeführt und lächerlich gemacht wurden, geriet für Marioneund ihre zwei kleinen Schwestern zur Qual. Die Angst, deportiert zu werden, war früh gegenwärtig.

Als Resultat hat sie beschlossen, eine Friedenskämpferin zu werden. Auf ihrem Instagram Account gibt es Clips, die sie mit leuchtenden Augen mit einem Schild vor dem Weißen Haus zeigen: „Survivor says, peace not war in our name!“ Auch auf der EvB-Bühne wirkt sie voller Tatendrang in ihrem farbenfrohen, glitzernden Pullover und mit ihrem jungen Gesicht. Es ist offensichtlich, sie hat Wut in Kraft verwandelt. 

Und so ruft sie auch den Großhansdorfer Schülerinnen und Schülern zu: „Ihr seid in großer Gefahr von allen Seiten. Seht rechtzeitig hin! Erinnert euch, was ich erzählt habe. Ihr müsst was tun! Ihr müsst das ändern! Nehmt eure Handys und startet eine globale Friedensbewegung! Sie mahnt: „It´s important that we are not quiet!“

Ihre Worte scheinen die Zuhörer zu erreichen. Es brandet spontaner zustimmender Applaus bei ihren Worten auf. Und sie haben viele Fragen, die Jungen und Mädchen im Forum. Beispielsweise: Ob es schwer sei, die Schrecknisse immer wieder zu erzählen. „Ja, aber ich muss es tun! Es darf nie vergessen werden!“ Ob sie einen bleibenden Schaden davongetragen hätte. „Ja, ich leide unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung.“ Alles würde immer durch ihren Körper zirkulieren wie ein Wurm; aber sie hätte gelernt, damit umzugehen. Wie sie in den USA aufgenommen worden sei. „Ohne Probleme.“ Aber dort würden andere Gruppen diskriminiert: Puerto Ricaner. Schwarze. 

Die Box mit Exemplaren ihres Buches ist sofort leer. Viele wollen eins und warten dann geduldig aufs Signieren. „Peace and Love“ schreibt die Autorin ihnen hinein; oder „Resist“. Wehret den Anfängen. Man müsse schon gegen kleinste Ausgrenzungen angehen. 

Viele Jugendliche nehmen die Gelegenheit wahr, noch ein paar ganz persönliche Worte auszutauschen. „Darf ich dich umarmen?“, fragen einige. Sie sind ganz offensichtlich sehr berührt und getroffen. Das dürfen sie und für einen kurzen Moment fließen das Gestern und das Heute und das Morgen zusammen. „Ich habe Hoffnung, dass ihr eine Generation seid, die für den Frieden eintritt“, sagt die 1935 in Hamburg geborene Jüdin. 

Und auch die Arbeitsgruppe „Schule ohne Rassismus“ und WiPo-Lehrer Sven Anderson, die für die Einladung dieser charismatischen Zeitzeugin verantwortlich sind, haben den Eindruck, dass etwas bewirkt wurde – und die Jugendlichen, so sie denn bei der Europawahl am 9. Juni ihre Stimme abgeben dürfen, auch dort sorgsam wählen werden.

Text: Heike Blenk

Fotos:  Sverre Dinter, Heike Blenk

 

 

 

 


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