Man sieht nur mit dem Herzen wirklich gut

Wie ist es, mit einer Behinderung zu leben? Erkenntnisse nicht nur durch das Lesen eines Jugendbuches im Deutschunterricht, sondern auch durch den Austausch mit einem tatsächlich erblindeten Menschen

„Behalt das Leben lieb“ ist der Titel des preisgekrönten Buches von Jaap ter Haar. Es geht um einen 13jährigen Jungen, der bei einem Unfall sein Augenlicht verliert und lernen muss, das Leben als Blinder zu meistern und zu lieben.

Damit sich das Thema im Deutschunterricht noch besser erschließt, hatte die Klasse 6a geplant, einen Ausflug zu „Dialog im Dunkeln“ zu unternehmen. Die Kinder machten auch einen Spaziergang über das Schulgelände– zweimal dieselbe Strecke - einmal mit offenen, dann geführt und mit geschlossenen Augen. „Man fühlt sich total unsicher“, stellte Richard fest. „Die anderen Sinne sind aber plötzlich viel aktiver“, fand Theo heraus.

Außerdem sollten die Schüler*innen Besuch von Bernt von Lueder erhalten. Er ist selber als Kind erblindet und hat es sich seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, mit jungen Menschen über das Leben mit dieser Behinderung zu sprechen. Er lässt Kinder mit verbundenen Augen und seinem Langstock ihren Weg finden. Er erklärt, wie man Blinde richtig anspricht und korrekt führt. Er zeigt die Schnalztechnik, mit der sich Blinde ähnlich Fledermäusen zurechtfinden können. Er zeigt seine Uhr, die er durch Fühlen und auch eine elektronische Ansage „lesen“ kann - und zeigt, wie man seine „Erbsen auf halb acht“ auf dem Teller finden kann. Und all das nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern eher leichtfüßig – und das kommt an.

Die 6a hatte sich auf seinen Besuch schon sehr gefreut und ihm sogar einen Ostergruß in Braille-Schrift zukommen lassen – aber nun scheint er durch Corona vielleicht nicht zustande zu kommen. Da hatte Bernt von Lueder mit Deutschlehrerin Heike Blenk eine Idee: Die Kinder sollten ihm schreiben und ihre Fragen stellen – er würde dann antworten. So erfuhr die Klasse, dass er einen Computer hat, der ihm die eingehenden Nachrichten vorlesen kann. „Max, so habe ich die Computerstimme getauft, ist ein wichtiger Begleiter in meinem Alltag“, schmunzelt Bernt von Lueder.

Adrian hat geschrieben, dass in seiner Straße ein Mädchen mit einem Blindenhund wohnt, und möchte wissen, ob Bernt von Lueder auch einen als Unterstützung nutzt. Nein. Mattes fragt, wie der blinde Mann draußen zurechtkommt und ob er schon Schlimmes erlebt habe. Ja. „Das war, als jemand mir über die Straße helfen wollte, obwohl ich gar nicht rübergehen wollte. Ich wartete nur am Straßenrand auf eine Freundin. Er zerrte mich einfach am Arm mit und als ich sagte, ich wolle das nicht, ließ er mich mitten auf der Fahrbahn einfach stehen... Das war gefährlich!“

Noch lieber aber erhält der Blinde Sprachnachrichten direkt vom Absender. „Über die Stimme erfahre ich sehr viel über einen Menschen. Ich kann seine Stimmung hören und auch, ob er lächelt, während er redet.“

Anna hat es ausprobiert. Das blonde, fröhliche Mädchen hat dem musikbegeisterten Blinden mehrere Nachrichten – und sogar ein Musikstück - aufgenommen. Und sie hat ihm ein Foto geschickt. „2% Sehkraft habe ich noch, wenn ich mir Bilder auf dem Computer ganz ganz stark vergrößere, dann kann ich Dinge ahnen“, erläutert Bernt von Lueder. Und so hat er Anna per Fotovergrößerung – aber vor allem aber über ihre Stimme - ziemlich gut beschrieben; äußerlich und vor allem innerlich. „Man sieht ja wirklich gut sowieso nur mit dem Herzen; das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, zitiert er aus dem „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupéry.

Er ist von Anna so begeistert, dass er sie zu seiner Assistentin ernannt hat, die ihm Wortmeldungen in der Klasse anzeigen soll - für den Fall, dass es doch noch klappt mit seinem Besuch in der 6a vor den Sommerferien. Aber selbst, wenn nicht – die 6a hat schon jetzt eine Menge von ihm gelernt.

Text: Heike Blenk

Fotos: Heike Blenk und privat

 

 

 

 


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