Mit Händen und Füßen und Übersetzer-App

Das Mädchen blickt aus großen braunen Augen freundlich und vertrauensvoll in die Kamera. Die glatten Haare sind zum Pferdeschwanz zurückgebunden, es lächelt entspannt. Das Kind auf dem Foto ist acht Jahre alt. Das Foto wurde 2018 in der Ukraine für den Personalausweis des Mädchens gemacht. Vier Jahre später ist dieses Bild das erste, das ich von Karolina sehe. In ihrem realen Leben ist gerade nichts mehr entspannt. Die fünfköpfige Familie Miroshnychenko ist vor dem brutalen russischen Angriffskrieg aus Kiew in der Ukraine geflohen und in Großhansdorf „gestrandet“. Familie Schumacher hat sie aufgenommen. Karolina, ihre zwei kleinen Brüder ( 9 und 2 Jahre alt), die Mutter und den Vater. Der durfte, anders als andere ukrainische Männer, mit ausreisen, weil mehr als zwei Kinder zu betreuen sind. Die Gastfamilie hat eine Kopie des Personalausweises an das Stormarner EvB geschickt, um sie als Schülerin anzumelden.

Die ersten Tage haben die Ukrainer genutzt um anzukommen, ihre Gastfamilie ein wenig besser kennenzulernen. Aber den ganzen Tag auf engem Raum ist für alle herausfordernd. Auch sollen die beiden älteren Kinder wieder einen strukturierten Alltag und ein gleichaltriges soziales Umfeld erhalten. Sie sollen abgelenkt werden von den Schrecken des Krieges in der Heimat und den bangen Fragen nach der Zukunft. In Hamburg sind dafür sogenannte Auffangklassen eingerichtet. In Schleswig-Holstein sollen die geflüchteten Kinder mit Gaststatus einfach direkt am regulären Schulunterricht teilnehmen. Wie das genau ablaufen soll - „vom Ministerium kommt bisher recht wenig“, sagt Schulleiter Frank Weis. „Für alle ist die Situation neu.“

Einfach – das wird es auf jeden Fall wohl nicht werden für Karolina am Gymnasium der Gastschwester Mia. Etwas einfacher immerhin, weil sie in die 5b, die Klasse ihrer Gastschwester, gehen darf und diese ihr so alles zeigen kann. „Wir versuchen hier am EvB wie bei einem Puzzle, die Teile zusammenzusuchen, die am besten für die Schüler*innen aus der Ukraine und auch zu unseren Schüler*innen passen“, skizziert der Schulleiter. Für mich als Klassenlehrerin der 5b heißt das: Ich muss quasi über Nacht meine Schüler*innen auf eine neue Mitschülerin vorbereiten, mit der sie sich zumindest nicht in Worten unterhalten können. Ich muss zeitnah eine Gelegenheit finden, mit den 10- oder 11jährigen über Karolinas traumatisierendes Schicksal zu sprechen. Wir müssen versuchen, in Windeseile eine herzliche Willkommensaktion zu planen. Ich google und verschicke „Herzlich willkommen!“ und „Schön, dass du da bist!“ in ukrainischer Schrift und bitte die 5b, trotz des Wochenendes, Willkommenskarten zu gestalten, die wir der neuen Mitschülerin dann überreichen können.

Ich versuche, schnell Informationen zusammenzusuchen. Spricht Karolina wenigstens etwas Deutsch oder Englisch? Nein. Ich frage bei Schulverein und Schulleitung, ob wir Brotdose, Trinkflasche und Schul-T-shirt verschenken können. Suche selber einen Glücksbringer heraus. Über eine Aufgabe, die Karolina während des regulären Unterrichtes, in dem sie ja kein einziges Wort versteht, bearbeiten kann, denke ich auch nach. Vielleicht ist es eine gute Idee, dass sie ein Tagebuch über ihre Zeit hier gestaltet!? Ich schreibe Karolina auf dem Account der Gastmutter ein paar Zeilen, damit sie schon mal einen ersten Bezug zu ihrer deutschen Klassenlehrerin und weniger Angst hat. Ich hoffe, jemand kann ihr meine Zeilen in Deutsch und Englisch übersetzen. Ich informiere das Klassenkollegium, das sich ja auch ad hoc auf die Situation einstellen muss.

Eine Mutter meldet sich und merkt an, dass vom Ministerium organisierte Auffangklassen, in denen die ukrainischen Kinder ihre Muttersprache hören, mit ihren Ängsten und Sorgen psychologisch betreut und aufgefangen werden, und Deutsch lernen, doch erst einmal das geeignetere Mittel wären. Auch einige Kolleg*innen fragen nach den Auffangklassen.

Am Montagmorgen nehme ich Karolina, von der ich nur ein Foto aus vergangenen, glücklicheren Tagen kenne, und deren Schicksal ich nur aus den Nachrichten erahnen kann, im Sekretariat von Mutter Iryna in Empfang. Ihr Blick ist nicht mehr so offen und vertrauensvoll wie auf dem Foto. Wir begrüßen uns mit Mimik und Gestik, mit Händen und Füßen. Und dann setzen wir unser Puzzle weiter zusammen.

25 freundlich lächelnde Gesichter blicken Karolina entgegen, als sie mit mir am Lehrerpult im Klassenraum steht. Andreas fragt: „Kann Karolina Russisch?“ Denn er kann und bietet an zu übersetzen... Ukrainisch und Russisch seien in etwa wie Hochdeutsch und Plattdeutsch, höre ich. Sie soll sich willkommen fühlen in der 5b, das steht ja auch auf den liebevoll gestalteten Willkommenskarten, die die Kinder der Ukrainerin nun überreichen. Viola hat sich und Karolina gezeichnet, beide halten ukrainische Flaggen in den Händen. Andere haben Fotos aufgeklebt, damit Karolina ihre Namen besser lernen kann. Als sie die Willkommenskarten von den Mitschüler*innen erhalten hat, zeigt mir Karolina ihr Handy-Display. Die Übersetzer-App schreibt: „Ich bin sehr froh, diese Worte zu lesen.“ Das Mädchen lächelt zum ersten Mal an diesem Tag.

Dass sie ihre Freude baldmöglichst auch auf Deutsch ausdrücken kann, darum hat sich die Stellvertretende Schulleiterin Renate Schöneich jetzt selbst gekümmert. „Ich habe einfach mal beim Verein für Flüchtlingshilfe angerufen und gefragt, ob sie uns helfen können.“ Der Verein konnte und schickte Frau Strodtmann, die langjährige Erfahrung im Deutsch Unterrichten für Ausländer hat. Unterstützt wird sie von der Deutschlehrerin Ute Thomsen, die während des Studiums ein Zusatz-Zertifikat erworben hat und einen weiteren Kurs geben wird. Damit die Gastschüler*innen auch digital beweglich sind und mit der App ANTON auch selbstständig Deutsch lernen können, bekommen sie von der Schule für den Vormittag Ipads geliehen.

„Wir alle zusammen – und von der Kraft des Gemeinsamen bin ich überzeugt – sammeln und verwirklichen permanent neue Ideen – und helfen so in einem längeren Prozess den ukrainischen Schüler*innen“, skizziert der Schulleiter die Bemühungen des EvBs. „Ich wünsche uns allen, dass wir Kräfte entwickeln, um den grausamen Bildern und traurigen Nachrichten aus dem Osten etwas entgegenzusetzen.“ Familie Miroshnychenko ist auf jeden Fall sehr froh und die Gastmutter schreibt, sie sei „wirklich sehr gerührt über die spontane und aufwändige Unterstützung der Schule.“ Bisher beherbergt das Stormarner EvB neben Karolina noch vier weitere Gastschüler*innen. Es werden weitere mit offenen Armen erwartet.

Text und Fotos: Heike Blenk


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