„Wären Sie lieber nicht mehr blind?“

Das fragte Hayk, nachdem er und die anderen Kinder in der 6a eine Weile Bernt von Lueder zugehört hatten, der über sein Leben in Blindheit erzählte. Wie er dennoch eine Ehefrau fand und eine Tochter bekam; wie er dennoch in den Skiurlaub fuhr und im Chor sang. Wie er einen Beruf ausübte. Wie schwer es aber auch sei, sich in unserer so visuell ausgerichteten Welt nur auf die anderen Sinne – und auf die Hilfe der Umwelt - zu verlassen.

Die unheilbare Augenerkrankung, an der der heute 84jährige seit seiner Kindheit leidet, ist 2023 mit Mitteln der heutigen Medizin heilbar, aber für Bernt von Lueder gab es damals kein Entrinnen aus der Dunkelheit und nun ist es zu spät für eine Behandlung. Zu Hayks Erstaunen hat der Blinde aber seinen Frieden mit seiner Situation gemacht.

„Was würde ich gewinnen, könnte ich wieder sehen?“, fragte er die aufmerksam zuhörenden 12jährigen. „Mehr Bewegungsfreiheit“, sagte Hanna wie aus der Pistole geschossen. Hatte sie doch eben gesehen, wie vorsichtig, langsam und fokussiert sich Bernt von Lueder auf seine Schnalztechnik konzentrieren muss, um nicht über Schülertaschen im Raum zu stolpern. „Aber dann würden die anderen Sinne, die bei Blinden ja hochtrainiert sind, wieder schwächer werden“, warf Marei ein. „Genau“, bestätigte der Gast. Ich würde vieles nicht mehr wahrnehmen, was ich jetzt über das Gehör mitbekomme.“

Zum Beweis: Mit verbundenen Augen sollten die Kinder beschreiben, was sie wahrnahmen. „Ich kann ein paar Stimmen auf dem Flur draußen hören“, sagte Matteo. „Und mich selber, das Blutrauschen“, ergänzte ein Klassenkamerad. Aber dass auch die Lampen an der Decke zu hören waren, das bemerkte nur Bernt von Lueder.

Draußen auf dem Pausenhof stellte der blinde Besucher dann unter Beweis, wie beweglich man auch ohne Augenlicht sein kann. Er begab sich tatsächlich an die Tischtennisplatte und retournierte den Ball, der ihm entgegen geflogen kam. „Ist der vielleicht doch gar nicht blind?“, flüsterte es in den erstaunten Zuschauerreihen. Auch das hörte der blinde Gast. „Doch, doch – aber ich orientiere mich an den Aufprallgeräuschen des Schlägers meines Gegners“, löste er das Rätsel.

Das Gehen am Langstock wurde noch geübt – und viel zu schnell endete die Doppelstunde. „Darf ich Sie mal in den Arm nehmen“, fragte Nora beim Verabschieden spontan. Sie durfte und andere folgten ihrem Beispiel. Und die, die nicht zum Bus mussten, blieben auch gerne noch einen Weile länger.

Text und Bilder: Heike Blenk


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