Man ist so orientierungslos

Die Inzidenz sinkt und damit sind, wenn auch immer noch unter strengen Hygienemaßnahmen, auch externe Besucher am EvB wieder erlaubt. Und so klappte es zu guter Letzt doch noch mit dem Besuch des blinden Bernt von Lueder in der 6a. Die sonst eher lebhafte Klasse saß mucksmäuschenstill auf den Plätzen und sah ihm gespannt entgegen. Allen war klar, dass Blinde sich schwerpunktmäßig über ihre Ohren orientieren und akustisches Durcheinander irritierend finden.

„Es ist heute mein 20jähriges Jubiläum“, sagte Bernt von Lueder zur Begrüßung. „So lange besuche ich schon Klassen und erzähle ihnen von meinem Leben ohne Augenlicht.“ Vor dem Zusammentreffen mit den Kindern hatte er selbstverständlich einen Test gemacht und trotz seines Asthmas trug er die ganze Zeit im Klassenraum eine medizinische Maske.

Mit der war es etwas schwerer, die Schnalztechnik vorzuführen, mit der er sich orientiert. Aber es gelang ihm dennoch unter den staunenden Augen der Schüler*innen, durch die eng möblierte Klasse zu gehen und ohne anzustoßen über herumliegende Taschen zu steigen. „Das ist so eine Echolot-Technik, wie sie auch Fledermäuse benutzen“, erkannte Richard.  Wie wenig man sieht, wenn man wie ihr Gast nur 2% Sehkraft hat, konnte die 6a erfahren, als eine eigens dafür präparierte Brille herumgereicht wurde. Jeder wollte sie ausprobieren und war erschrocken über die Dunkelheit, die sich über ihn senkte.

„Was ist der Unterschied zwischen Menschen, die durch Unfälle blind werden und welche, die von Geburt an blind sind?“ Wie auch bei den vorigen Fragen schnellten viele Finger nach oben. Anna, die der Blinde zu seiner Assistentin ernannt hatte, nahm die Kinder für ihn dran. Vorgebildet durch die Lektüre des Jugendromans „Behalt das Leben lieb“ wusste die 6a bereits, dass die Bilder, die das Gehirn des Sehenden gespeichert hat, immer abrufbar bleiben. Und so konnten sie auch selbst mit zugehaltenen Augen eine Geschichte vom Meer sehen, die sie erzählt bekamen.

Draußen auf dem sonnigen Schulhof durften sie dann das Gehen mit dem Langstock ausprobieren. Mit verbundenen Augen musste sich Pia den Weg durch Klassenkameraden bahnen, die ihr in den Weg gestellt wurden. „Ohjeh, man ist so orientierungslos“, seufzte sie, als sie am Ende erleichtert die Augenbinde abstreifen und wieder sehen konnte.

„Wie würdet ihr einen Blinden führen, wenn ihr ihm über die Straße helfen wolltet?“ Moritz machte einen Versuch an der Hand. Kaja versuchte es an der Schulter. Aber erst Merle wusste die richtige Technik. „Man muss den Unterarm zur Orientierung wie eine Ruderpinne lenken“, sagte sie.

Gar nicht orientierungslos wirkte Bernt von Lueder, als er sich mit Moritz an der Tischtennisplatte ein schnelles Match lieferte. Hier musste er die Maske abnehmen – während die 6a ihre zur Sicherheit aufließ. Auch für Theo, Torben und Mika war er ein würdiger Gegner. „Ich habe dafür ein ganzes Jahr lang trainiert“, verriet der Behinderte. Ich höre, wo der Ball die Schlägerfläche trifft – und kann dann die Flugbahn vorhersehen.“

Man müsse diszipliniert sein, damit man sich in der Welt der Sehenden zurechtfindet – aber man gewinne auch ein geschärftes Ohr und beurteile Dinge und Menschen nicht mehr oberflächlich. So nah waren sie einem Blinden noch nie – und mit großer Konzentration nutzten die Kinder die Möglichkeiten dieser spannenden Erfahrung – und der Erkenntnis, dass man auch mit einer Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen kann.

Text und Bilder: Heike Blenk


Impressum | Datenschutzerklärung

Emil-von-Behring-Gymnasium
Sieker Landstraße 203a, 22927 Großhansdorf
Telefon +49 04102-4586-0
Fax +49 4102-4586-23